Samstag, 27. April 2019

Riegelverkostung – Raider Spekulatiusgewürz


Ja ja, ich weiß, dennoch: für mich wird es immer Raider bleiben.

 Was steht drauf:  Limited Edition

Hüftgoldfaktor: wird nicht preisgegeben, stattdessen erhält man die Information, daß dieses Produkt nicht zum Einzelverkauf „geeignet“ sei.

Erster Eindruck: Kafkaesk. Dieses Adjektiv, das ein unergründliches Gefühl der Bedrohung, der Unsicherheit oder des Ausgeliefertseins, etwa angesichts einer im Dunkeln liegenden Macht bezeichnet, war meine erste Assoziation mit dieser neuen Permutation der ansonsten ja ordinär bekannten Riegelware in gewohnter, an den Rändern lediglich  eingeröteten Verpackung: das Seltsame, Unergründliche, Gesprungene im scheinbar Bekannten, Genormten, Gewöhnlichen liegt uns hier vor. Uns eigentlich zustehende Auskunft (Hüftgoldfaktor) wird uns von den obwaltenden obskuren Mächten verweigert, stattdessen werden wir mit kryptischen, beamtendeutschen Erklärungen („Einzelverkaufsuneignung“) und sperrigen, schnarrenden Begriffen („Spekulatiusgewürz“) abgefertigt und haben uns abzufinden.
Auch die Ration wurde uns gekürzt. Ich erinnere mich noch daran, daß ich früher, wenn vor die Wahl der Schokoriegel gestellt, gerne zu „Raider“ griff, weil dieser nicht nur gleich zwei sondern auch noch besonders lange Stangerl enthielt. Die murkeligen Winzlinge, die ich nun aus dieser Packung entnahm und die inzwischen gar kürzer als ein Duplo sind, erinnerten mich kaum mehr an Naschfreuden der Jugendtage im goldenen Glanze lustvoll langer Lanzen karamellunterflossener Schokoladenpracht, sondern daran, daß immer Alles weniger und ärmer und schlechter wird und schwindet und scheidet und daß das Leben endlich ist. Dazu paßte fast poetisch, daß dieser gestaltgewordene Schwund, diese Momentaufnahme des Fortgenommenwerdens aus der Nähe nach Weihnachten bei den Armen riecht, die in klammen, neonkalten Nettofilialen die verbeulten Beutel mit den alten Pfeffernüsse auf schon hart gewordenen Oblaten aus dem „-30%-Korb“ (kurze Haltbarkeit) klauben müssen.

Mundhaptik: Da hier wohl nur der keksene Untergrund leicht angepasst und allenfalls minimal in seiner Knusper- und Trockenhaftigkeit verändert wurde und der Binnenaufbau dieser Naschwerkvariation ansonsten nicht vom Original zu unterscheiden ist, ist auch die Mundhaptik annähernd identisch zu der, die man von jenem kannte und erwartete. Es ist wie bei Kafka: die äußere Form ist unverändert, alles sieht wie gewohnt aus, fühlt sich wie an wie immer, …

Geschmack: … nur daß der altbekannte Geschmack sich eben wie in einer Nacht voll unruhiger Träume in ein ungeheures Ungeziefer verwandelt hat. Mit einer Gefühlsmischung, wie man sie angesichts eines feist glänzenden spackschwarzen Mistkäfers, den man morgens unter der Bettdecke vorfindet, wohl empfände, reagierte ich auch auf den Geschmack von "Raider Spekulatiusgewürz": Überraschung, die unmittelbar überlagert wird von einem zweifachen Unwillen, darüber, einen so unpassenden, unerbetenen, penetrant und unignorierbar präsenten und keineswegs appetitlichen Gast (Käfer bzw. Geschmack) dort (Bett bzw. Mund) vorzufinden und darüber, nun mit der durch die schiere Begegnung sich einem aufbürdenden Verpflichtung sich belegt zu sehen, jenen Eindringling zu beseitigen (fangen und aus dem Fenster werfen bzw. weiterkauen und runterschlucken).

Fazit: »Limited Edition?« sagte Frau Samsa und sah fragend zur Bedienerin auf, trotzdem sie doch alles selbst prüfen und sogar ohne Prüfung erkennen konnte. »Das will ich meinen«, sagte die Bedienerin und stieß zum Beweis das angebissene Raider mit dem Besen noch ein großes Stück seitwärts. Frau Samsa machte eine Bewegung, als wolle sie den Besen zurückhalten, tat es aber nicht. »Nun«, sagte Herr Samsa, »jetzt können wir Gott danken.«